Bischof Dr. Christian Stäblein

Predigt zur Orgelweihe

21. August 2021
Alte Pfarrkirche Pankow „Zu den Vier Evangelisten“
Numeri 10, 1-11

Liebe Festgemeinde, Orgelfreundinnen und –freunde,
Freunde der Kirche Alt-Pankow, liebe Schwestern und Brüder,
Musik – Orgelspiel zumal – ist die Kunst des Augenblicks, das ist ja klar, Musik kann immer nur Jetzt sein, die Luftsäulen entstehen und pflanzen sich fort durch den Raum, aus den Pfeifen treten jene Windwellen hervor, die uns tönen. Und das nicht irgendwie, sondern kunstvoll, dass wir in starke, intensive Stimmungen versetzt werden, erfasst geradezu. Weggetragen werden von Orgelwinden. Man sieht es sonderbarerweise oft an den Augen, die schon mal glasig werden können, also feucht oder verklärt oder träumerisch fern. In den Augen, hinter ihnen, spiegelt sich ein früher, womöglich als etwas gut schien, vom Leben umarmt, im Garten, auf der Bank, zwischen den Eltern. Oder wie es war, als Du gehadert hast, tagelang. Als der Krebs. Tonleiter rauf. Runter. Runter. Und ja, es spiegelt sich vermutlich auch ein Später. Eine Hoffnung, wie gut es werden kann, miteinander. Wieder auf der Bank. Im Grün von der Kirche. Mit Enkeln. Hinter den Augen stimmen Töne das Sein, bringen uns zum Schwingen. Ja, ausgerechnet die Augen zeigen uns diese Wirkung des Orgelspiels, die Kunst des Augenblicks. Paradox eigentlich, weil: ist ja gerade nicht zu sehen, also den Ton sieht unser Auge nicht, nur die Wirkung. Liebe Festgemeinde, ich gebe zu, ein romantischer Gedanke das mit dem Sehen und Nichtsehen und dem Erinnern und Hoffen, ein romantisierender Einstieg irgendwie, aber wie soll man Musik ernsthaft anders betrachten, als von dem Mehr, von dem Zusätzlichen, das entsteht, wenn die Orgel spielt. Romantik ist ja doch nicht, wie unser Alltagssprachgebrauch manchmal meint, irgendwie Gefühlsduselei, emotionale Undiszpliniertheit oder so. Romantik ist die Einsicht, dass es auf das Mehr ankommt, auf das, was, was der Geist über die Mathematik der Windsäulen und über die Sinuskurven der Schwallwellen hinaus spürt und teilt. Auf dieses Mehr kommt es an. Dafür die Orgel, deren Töne man natürlich – klar, wir haben CDs – die man natürlich auch mit nach Hause nehmen kann, auch mit dieser wunderbaren Orgel wird das bald so sein, aber entscheidend bei einer Orgel ist immer Jetzt. Das Ineinander von Erinnerung und Zukunft, verschlungen, verknotet, spürbar im Aufbruch des Moments.

Das ist etwa ist die Situation jenes Moments, der in Numeri 10 – also im vierten Buch Mose – eingefangen ist. Da wird erzählt, wie das am Sinai lagernde Volk Israel aufbricht. Dafür die ausführliche Bläserordnung, die wir vorhin gehört haben. Die Zeit des Zwischenstopps am Berg – mit Empfang der Gesetzestafeln, mit allem Rüstzeug, dass das Volk Israel und die ganze Menschheit braucht, mitbekommen hat von Gott, 10 Gebote, Versprechen, Auftrag – diese Zeit des Zwischenstopps ist vorbei. Aufbruch. Trompeten aus geriebenem Silber, wenn man mit einer bläst, so, wenn man mit zweien bläst, so, laut, so, leise, so. Auf geht’s, Aufbruch. Was machen wir mit diesen Worten? Eins zu eins wohl kaum – wenn die Schwester Livmane zwei ihrer Register nimmt, sind die Straßenzüge hier südlich in Pankow dran mit aufbrechen, wenn er das hohe Waldhornregister nimmt, die nördlichen? Das wäre albern, obwohl die Schwester Livmane das ganz sicher kann und ganz sicher so könnte, dass sich hier alle versammeln, ganz Pankow und weit darüber hinaus. Aber nein: ich sage es gleich. Das Eigentliche, das Tiefe an den Numeri-Worten sieht man natürlich nicht, wie sollte es anders sein heute, das schwebt wie die Orgelwinde und wie der Geist zwischen den Buchstaben. Das Tiefe an diesen Worten, die Sie ausgesucht haben? Sie sind so viel später geschrieben, ja sie meinen ein so viel später. Sie verwickeln ein Israel in eine Vergangenheit, die gleichsam den Augenblick des Aufbruchs in ein früher verlegt, ein Aufbruch, der dadurch erst recht jetzt sein kann. Klingt kompliziert? 500 oder 1000 Jahre später geschrieben und für das Jetzt gemeint: Wenn ihr blast, sollt ihr denken, spüren, in Bewegung nehmen, dass Gott mit euch ist. Als wäre es damals, ist deshalb wie morgen schon jetzt. Die Schwingungen dieser Töne verschlingen das Ineinander der Zeit. Und Gott ist da. Zu tricky? Zu romantisch, also im echten Sinne – mit dem Mehr der Erinnerung, die aus der Zukunft tönt?

Liebe Festgemeinde, genau an diesem Punkt sind wir jetzt. Weil: Mit einer Orgel, die mit diesem Mehr des Gestern für das Morgen spielt. Sie haben ja etwas Einmaliges hier. Eine Carl-August-Buchholz-Orgel aus der Werkstatt von Christian Wegscheider. Wie bitte? Was haben Sie? Eine Carl-August-Buchholz-Orgel, das ist der Orgelbauer des 19. Jahrhunderts, aber fast nichts mehr erhalten, fast alle zerstört, die er gebaut, allein 40 wohl in Berlin, die großen, sind nicht mehr, muss man bis nach Kronstadt oder rauf nach Barth, um noch welche von ihm zu finden, eine versunkene Welt fast. Und die taucht in Pankow wieder auf, hier, wo sie zerstört und untergegangen am Ende des Krieges. Mancher, manche von Ihnen, ich habe extra fragen lassen, hat die einstige Buchholz-Orgel hier noch gehört, bevor sie zerstört und abgebaut wurde für über ein dreiviertel Jahrhundert. Und jetzt ist sie wieder da. Ja. Nein, Unsinn. Ist sie nicht. Ist eine neue, eine aus der Wegscheider-Werkstatt, eine Wegscheider Orgel, Dresdener Kunst, Ihre, lieber Herr Wegscheider, Ihre Kunst, an der Zeit zu drehen und so die Kunst des Augenblicks zu schaffen. Unsere Augen dürfen glasig und verträumt werden, als wäre es ein Gestern. Aber es ist das Morgen, der Aufbruch in die Zukunft. Romantisch klingt das? Naja, Frühromantik-Orgeln, das war die Kunst von Carl-August Buchholz und das ist auch Ihre Kunst. Und Frühromantik heißt erst recht: Keine Gefühlsduselei, klares, ja durchaus strenges Gewahrwerden des Geistes durch die Aufklärung hindurch. Aufgeklärt. Und dann wird es Licht, klar, auch das Wellen, sinuskurvenartig, aber Klarheit ist mehr als Wellen von Licht. Nein, also kein albernes früher war es doch schöner und alles besser. Nie war es so. Es tut aber gut: bis zum Sinai zurück und dann mit Gott auf den Weg. In Pankow. Sorry, ein irre krass geniales Projekt, das Sie hier durchgezogen haben, in ein paar Jahren mit Spendern und Lotto-Mitteln. Ein Sinai-Projekt, numeriverdächtig, biblischer Glaube pur, nämlich: Zurück in die Zukunft. Pankow ist eben Nummero eins im verknoten der Zeit und im Aufbrechen, wenn es dran ist.

Jetzt übertreibe ich? Werde romantisch, weil dieses hier ja die erste Kirche ist, in der ich in Berlin zu Hause war, wirklich zu Hause? Sehe mich selbst hier sitzen als ich noch jung war, nicht wusste wohin. Und erinnere: hier ist der Aufbruch zu Hause. Pankower Friedenskreis, alle wissen das. Friedenskreis. Und dann nehmen Sie zur Orgeleinweihung einen Bibeltext, in dem ja offenkundig zum Krieg geblasen wird?! Verrückt, möchte man meinen, völlig unpassend denkt man zuerst, zumal heute, wo die Bilder im Fernsehen uns selbst ernannte „Gotteskrieger“ vorführen, die ihre Kalaschnikow vor der Brust tragen. Und also alles andere als „Gotteskrieger“ sind, die nichts weiter als die Religion missbrauchen. Da wünscht man sich den Pankower Friedenskreis und seine tiefe Einsicht, dass Waffen wohl manchmal nötig sind, um Menschen zu retten, jetzt auch, um Menschen aus Afghanistan heraus zu holen. Den Frieden Gottes aber bringen die Waffen nicht, das bleibt zu unterscheiden, wie es der Pankower Friedenskreis zu unterscheiden wusste. Am Ende ist verheißen Schwerter zu Pflugscharen und Kalaschnikowrohre zu Rosenvasen. Und eine Friedensorgel dazu ist verheißen, nicht gestern, morgen. Friedenstöne, die in Schwingung versetzen. So ist das auch der passende Bibeltext, denn, das sei gesagt, das ist ja der Geist dieses Textes: als die Israeliten diese Verse aufschreiben, konnten sie längst keinen Krieg mehr führen, wollten es schon gar nicht, waren verstreut und versprengt, gebrauchten ihre Musikhörner ausschließlich zum Sammeln und zum Feiern des Gottesdienstes. Also für nichts anderes als die Einsicht, wer Gott ist. Und wie man mit ihm die Opfer beklagt, die Geschwister, die zu früh gegangen oder gefallen oder nicht rechtzeitig gerettet, auf deren Wiedersehen wir hoffen, wenn Gott aus der Zukunft auf uns kommt. Wahre, tiefe Frühromantik: Gestern für morgen. Pankower Friedensorgel: Buchholz-Wegscheider-Wegweiser ins morgen.

Und dann geht einem doch die Luft aus, die Puste. Das kennen Sie, liebe Gemeinde, alles gesagt scheinbar und plötzlich die Luft raus? Das Leiden der Romantik ist ja, dass all das Mehr, all der Geist über die Kurven der Wellen hinaus nicht festzuhalten ist und sich plötzlich womöglich entzieht. Dann fallen wir aus der Zeit. Wie wir aus dem Glauben fallen, wenn einer plötzlich sagt: also alles erfunden am Sinai, später gedichtet, kein früher gewesen. Luft raus, starres Jetzt statt Aufbruch. Am Kreuz ist die Luft raus, der Odem, der Atem, Christus ist wohl erstickt, sagen die Bibelforscher. Und gerade darin bei uns, wenn wir aus der Zeit fallen, dem Glauben, dem Vertrauen.

Liebe Gemeinde, lieber Bruder Forck, liebe Schwester Livmane, lieber Bruder Wegscheider, ich weiß gar nicht, ob das bei einer modernen Orgel noch so ist, wie ich das von früher kenne. Also nicht ganz früher, als irgendwer bei der Orgel den Blasebalg treten musste, später, mit den ersten Motoren. Da rumpelte es so, wenn man die Orgel einschaltete, Motor an und man hörte das Spielwerk sich zurecht rücken wie – ich weiß nicht, wie als ob aus dem Keller jemand hoch kommt. Orgelerwachen, hatte ich immer das Gefühl, kleine Auferstehung. Und dann, meist, wie zum Test, so ein erster Ton. Orgel beginnt ja selten im tutti, manchmal auch das, aber meist eher ein Ton, eine Taste, ein Pedal. Und dann beginnt die Reise. Und sie beginnt so aus dem Nichts, weil, eigentlich sind die Luftströme ja da, aber jetzt werden sie eben sortiert. Kunst des Augenblicks. Aufbruch auf große Fahrt. Jahrhunderte zurück. Jahrhunderte nach vorn. Das ist, was die Orgel kann, uns auf diese Reise des Glaubens mitnehmen. Und zwar gerade, wenn mir die Puste ausgegangen ist. Dann ist Orgelerwachen. Wie früher ins Später. Wo Gott ist, wo er war. Und von wo er kommt. Ich weiß nicht, ob die Pankower Buchholz-Orgel aus der Werktstatt-Wegscheider noch so sonderbare Laute beim Einschalten gibt, vermutlich nicht. Aber dass sie uns mitnimmt, in Frieden und zum Frieden, zum Frieden Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft und der Euch bewahre, Herzen und Sinne, alle miteinander, das glaube ich, erinnere ich, hoffe ich – und bin so froh mit Euch über diese Orgel. So dankbar – Augenblick – hört die Orgel. Amen